Bericht über die Feier zur Verleihung des Joachim Jungius-Preises 2014 (Am 9. Januar 2015 im Warburg-Haus, Hamburg)
Begrüßung
Prof. Dr. Jörn Henning Wolf, Stiftungsvorsitzender
Sehr geehrte Frau Senatorin,
meine sehr geehrten Damen und Herren!
Im Namen des Vorstands der Joachim Jungius-Stiftung der Wissenschaften zu Hamburg begrüße ich Sie zur heutigen Feier der Verleihung des Joachim Jungius-Preises 2014.
Es ist die dritte Veranstaltung dieser Art seit Errichtung der Stiftung im Jahr 2007, sie findet jeweils statt an einem dem Thema der mit dem Preis ausgezeichneten Forschungsarbeit entsprechenden Ort: Für die heute zu würdigende Preisschrift „How to Identify Moral Experts?“ schien das 1993 unter der damaligen Wissenschaftssenatorin von der Hansestadt Hamburg erworbene und renovierte Warburg-Haus geradezu prädestiniert zu sein; denn es gilt seither als geistes- und sozialwissenschaftliches Zentrum und bietet in seinem denkmalgerecht restaurierten Lesesaal der einstigen weltberühmten Warburg-Bibliothek, heute zugleich Konferenzsaal, einen angemessenen Rahmen für unseren heutigen Festakt mit Vorträgen zu philosophisch-sozialwissenschaftlicher Thematik.
Zunächst darf ich Frau Senatorin Dr. Dorothee Stapelfeldt, Präses der Behörde für Wissenschaft und Forschung sowie Zweite Bürgermeisterin der Freien und Hansestadt Hamburg begrüßen: ich danke Ihnen für Ihre Teilnahme an unserer Preisverleihungsfeier und besonders für Ihre Bereitschaft, ein Grußwort an uns zu richten.
Ebenfalls begrüße ich ausdrücklich Herrn Kollegen Prof. Dr. Michael Baurmann, Inhaber des Lehrstuhls für Soziologie am Sozialwissenschaftlichen Institut der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, der zu meiner Freude den Festvortrag übernommen und ihm einen faszinierenden Titel gegeben hat.
Und schließlich begrüßen und beglückwünschen wir gemeinsam unseren Preisträger, Herrn Dipl. Psychologen Dr. phil. Martin Hoffmann – wir werden noch Näheres über ihn und von ihm hören!
Last not least gilt mein Gruß Herrn Professor Dr. Edwin Kreuzer, dem Präsidenten der Akademie der Wissenschaften in Hamburg, dessen Anwesenheit die entstehungsgeschichtliche Verbundenheit der Akademie mit ihrer Vorläuferinstitution, der ehemaligen Joachim Jungius-Gesellschaft, der er selbst angehört hat, symbolisiert.
Ich danke Ihnen allen, meine sehr verehrten Damen und Herren, für Ihr Kommen zu unserer heutigen Festveranstaltung. Sie bekunden damit offensichtlich Ihr Interesse an der spezifischen, nach unserem einhelligen Urteil exzellenten Forschungsleistung eines hervorragenden Nachwuchswissenschaftlers, des Philosophen Martin Hoffmann, und widmen zugleich Ihre Aufmerksamkeit unserer noch jungen, dem Geist des altehrwürdigen Hamburger Universalgelehrten Joachim Jungius verpflichteten Stiftung. Ihre Tätigkeit erstreckt sich auf die gedankliche Entwicklung relevanter Themen in den verschiedenen Wissenschaftsgebieten, auf mehrstufige Bewertungsverfahren der eingegangenen Arbeiten von aussichtsreichen Kandidaten bis hin zur Auswahl und Auszeichnung des endgültigen Preisträgers. Mit Ihrer persönlichen Anteilnahme am genannten Wirken der Joachim Jungius-Stiftung der Wissenschaften zu Hamburg beflügeln Sie in Zeiten sinkender Kapitalzinserträge und somit für Stiftungen allgemein schwindender Ressourcen unser ideelles Engagement für künftige Aktivitäten zum Wohl junger Wissenschaftlergenerationen. Ich danke Ihnen. Ich darf nun Frau Senatorin Dr. Stapelfeldt um ihr Grußwort bitten.
Grußwort
Senatorin Dr. Dorothee Stapelfeldt, Zweite Bürgermeisterin der Freien und Hansestadt Hamburg und Präses der Behörde für Wissenschaft und Forschung
Sehr geehrter Herr Prof. Wolf,
sehr geehrter Herr Prof. Baurmann,
sehr geehrter Herr Dr. Hoffmann,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
vielen Dank für die Einladung zur Verleihung des dritten Joachim Jungius-Preises! Ich freue mich sehr, Ihnen bei dieser Gelegenheit ein gutes Neues Jahr wünschen zu können. Diese Preisverleihung ist ein würdiger Start in das neue Stiftungsjahr, zumal in den schönen Räumen des Warburg-Hauses, der alten kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg. Ich wünsche Ihnen auch für 2015 eine anregende Stiftungstätigkeit und viele gute Ideen.
Meine Damen und Herren, eine Ihrer Ideen hat sich absolut bewährt: nämlich die, das Vermögen der Joachim Jungius-Gesellschaft nach der Gründung der Akademie der Wissenschaften in Hamburg in eine Stiftung zu überführen und damit einen Preis zur Förderung von Wissenschaft und Forschung zu finanzieren. Dieser Preis würdigt Arbeiten in Fachbereichen, die bei Ausschreibungen für Wissenschaftspreise sonst nicht so häufig berücksichtigt werden: bisher in der Mikroökonomie, in den Rechtswissenschaften und diesmal in der Philosophie. Der Joachim Jungius-Preis ist damit eine gute Ergänzung zur Hamburgischen Preislandschaft, die sich häufig mehr auf Arbeiten in den Naturwissenschaften konzentriert.
Ich freue mich sehr, dass in diesem Jahr ein Geisteswissenschaftler geehrt wird: Dr. Martin Hoffmann, erneut ein wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Hamburg, genauer des Philosophischen Seminars. Lieber Herr Dr. Hoffmann, meinen herzlichen Glückwunsch! Ich freue mich sehr, dass mit dem Joachim Jungius-Preis 2015 ein geisteswissenschaftlicher Aufsatz gewürdigt wird, der sich mit normativ-ethischen Fragen beschäftigt, genauer mit der auf Englisch formulierten Frage: „How to identify Moral Experts? An Application of Goldman’s Criteria for Expert Identification to the Domain of Morality“, erschienen 2012 in der Februarausgabe der Zeitschrift für Sozialtheorie Analyse und Kritik. Ich finde Arbeiten wie diese sehr wichtig für den moraltheoretischen Diskurs einer aufgeklärten demokratischen Gesellschaft wie der unseren. Eine solche Gesellschaft muss aus sich heraus Kriterien für die Identifizierung von Ethik-Experten entwickeln, jenseits von religiösen oder ähnlichen Konzepten. Denn diese Expertinnen und Experten müssen den Anforderungen gerecht werden, die eine plurale Gesellschaft an sie stellt.
Dabei geht es um immense Herausforderungen und um die Lösung oder Regelung fundamentaler Fragestellungen. Als Beispiele nenne ich nur Sterbehilfe und Präimplantationsdiagnostik: Themen, mit denen sich auch der Deutsche Ethikrat im Auftrag des Bundestags beschäftigt hat beziehungsweise beschäftigen wird und vor die uns erst die Errungenschaften der modernen Medizin gestellt haben.
Die Jury des Joachim Jungius-Preises hat daher aus meiner Sicht mit der Ehrung von Herrn Dr. Hoffmann eine kluge Entscheidung getroffen. Gestatten Sie mir dennoch die Anregung, bei künftigen Ausschreibungen zum Joachim-Jungius-Preis nach drei männlichen Preisträgern verstärkt exzellente Wissenschaftlerinnen zu ermuntern, sich zu bewerben.
Meine Damen und Herren, zurück also zum Preis, zurück zur Joachim Jungius-Stiftung: Deren Erfolg zeigt sich nicht zuletzt auch in der Lebendigkeit der Akademie der Wissenschaften in Hamburg. Denn deren Gründung hatte die Vorläuferin der Jungius-Stiftung, die Jungius-Gesellschaft, dankenswerterweise über Jahrzehnte vorbereitet. Viele von Ihnen sind Mitglieder in beiden Organisationen, viele Ihrer Mitglieder beteiligen sich auch aktiv an der Arbeit der Akademie. Sie, lieber Herr Prof. Wolf, leiten zum Beispiel den Arbeitskreis Medizingeschichte.
Die Joachim Jungius-Stiftung steht jetzt vor der Herausforderung, ihr Profil weiter zu schärfen, weitere Aktivitäten zu entfalten, z.B. bei der Nachwuchsförderung. Das macht die Stiftung zugleich attraktiv für jüngere Mitglieder. Zugleich denke ich, macht es Sinn, sich um mehr weibliche Mitglieder zu bemühen. Das geistige Erbe des großen norddeutschen Universalgelehrten Joachim Jungius ist dabei Geschenk und Verpflichtung zugleich. Ich danke Ihnen, dass Sie es mit Ihrer Arbeit wach und lebendig halten. Ich wünsche uns allen eine stimmungsvolle Preisverleihung und gratuliere Ihnen, sehr geehrter Herr Dr. Hoffmann, noch einmal sehr herzlich zum dritten Joachim Jungius-Preis.
Festvortrag
„Wissen aus zweiter Hand: Experten, Scharlatane und Verführer.“
Prof. Dr. Michael Baurmann, Heinrich Heine-Universität, Düsseldorf
Download: Festvortrag.pdf
Verleihung des Joachim-Jungius-Preises 2014
Prof. Dr. Jörn Henning Wolf verliest die Laudatio auf den Preisträger
Herr Dr. Hoffman stammt aus Osterode am Harz, wo er, 1973 geboren, mit 19 Jahren das Abitur ablegte.
Sein Diplom-Studium der Psychologie begann er 1993 in Würzburg und erweiterte es ab 1995 in Hamburg um den Magisterstudiengang Philosophie, beide Studien schloss er mit akademischen Prüfungen 2000 bzw.2001 ab, mit jeweils ausgezeichneten Noten.
Seit 2001 ist Herr Hoffmann wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Seminar der Universität Hamburg, zunächst im Arbeitsbereich Theoretische Philosophie und im DFG-Projekt „Kohärenzbegriffe in der Ethik“, worüber er auch seine philosophische Dissertation verfasste und 2007 zum Dr. phil. mit der Note „summa cum laude“ promoviert wurde.
Seine wissenschaftliche Tätigkeit am Philosophischen Seminar in Hamburg unterbrachen von 2006 bis 2009 die Mitwirkung im BMFB-Projekt „Ethische Probleme bei randomisierten Klinischen Studien“ in Münster sowie gleichfalls dort 2014/15 seine Aufgabe als Junior Fellow in der Kolleg-Forschergruppe „Theoretische Grundlagen der Normenbegründung in Medizinethik und Biopolitik“.
Herr Hoffman organisierte mehrere Workshops und Ringvorlesungen. Die Synopse seiner Lehrveranstaltungen und die Listen der Vorträge, zahlreichen Aufsätze, Handbuchartikel und Rezensionen spiegeln ein von ihm bearbeitetes breites Themenspektrum auf psychologisch-anthropologischem, philosophisch-ethischem Gebiet und zum Krankheitsbegriff. Als Monographie erschien seine philosophische Dissertation über „Kohärenzbegriffe in der Ethik“, dem Kerngebiet seiner Forschung, 2008 im renommierten Verlag de Gruyter, und die heute preisgekrönte Abhandlung in der von unserem Festredner, Herrn Professor Baurmann mit herausgegebenen Zeitschrift Analyse & Kritik.
Damit komme ich zur Verlesung der Urkunde:
Martin Hoffmann konzentriert sich in seiner Arbeit, zunächst losgelöst vom thematischen Bezug zu ethischer Expertise, auf die Frage, was generell Experten kennzeichnet, welche objektiven Merkmale sie aufweisen. Unter Heranziehung der von A. Goldman aufgestellten Maßstäbe für die Qualifikation von Experten überträgt Hoffmann diese auf die Sphäre des Moralischen. Dabei stellt er fest, dass sie sich zwar nicht dazu eignen, moralische Experten, wohl aber ethische Experten vermittels der von ihm modifizierten Kriterien zu identifizieren. Letztere charakterisiert die Reflexion auf der Ebene der Theorie, während moralische Experten dem Vollzug der Forderungen ethischer Reflexion genügen. Quintessenz der Arbeit ist die von Hoffmann entsprechend der begrifflichen Unterscheidung zwischen Moral und Ethik substanziell begründete Maßgabe, sich bei der Beurteilung von Experten konsequent auf ethische Expertise und nicht auf moralische Expertise auszurichten. Hoffmann widerspricht nicht der ontologischen These, dass moralische Experten existieren, er schätzt sich vielmehr glücklich zu billigen, dass sie Aristotelische „phronimoi“ sind, die wir aber – so sein Ergebnis – vielleicht tragischerweise aber sondern bekräftigt die Existenz „moralischer Insgesamt zeichnet sich die Abhandlung von Martin Hoffmann durch exzellente wissenschaftliche Qualität, originelle Gedankenführung, Prägnanz der begrifflichen Differenzierung und Souveränität der philosophischen Argumentation aus.
Referat des Preisträgers
„Kann man in Fragen der Moral Experte sein?“
Dr. phil. Martin Hoffmann, Hamburg
Sehr geehrte Frau Senatorin Stapelfeldt,
sehr geehrter Herr Akademiepräsident Kreuzer,
verehrte Mitglieder des Vorstands der Joachim Jungius-Stiftung,
liebe Kolleginnen und Kollegen, Freunde und Familienangehörige,
liebe Studierende,
nach so vielen ehrenden Worten ist es nicht leicht, selbst das Wort zu ergreifen. Ich möchte damit beginnen, Ihnen zu sagen, wie sehr ich mich über diesen Preis freue. Es ist für mich eine große Ehre, den Joachim Jungius-Preis heute entgegennehmen zu dürfen, und ich begreife ihn nicht nur als eine Anerkennung meiner persönlichen Arbeit, sondern auch als den Ausdruck einer Wertschätzung dessen, was philosophische Forschung zur Lösung von Problemen beitragen kann, die heute überwiegend von Vertretern der empirischen Einzelwissenschaften bearbeitet werden. Mein Dank gilt an erster Stelle dem Vorstand der Joachim Jungius-Stiftung für die Zuerkennung dieses Preises und Herrn Professor Wolf und Herrn Professor Baurmann für Ihre ehrenden Worte. Außerdem möchte ich den vielen danken, ohne deren Unterstützung meiner philosophische Arbeit gar nicht ermöglicht worden wäre: Zu nennen ist meine Familie, im Besonderen meine Eltern, die heute hier sind, meine akademischen Lehrerinnen und Lehrer in Hamburg, Würzburg und Münster, und die Studierenden, deren kritische Nachfragen mir eine stete Quelle der Inspiration waren und sind.
Wie Herr Baurmann in seinem Festvortrag bereits ausführte, hat sich die soziale Erkenntnistheorie in den letzten dreißig Jahren fest als eine Subdisziplin der modernen Epistemologie etabliert. Ein Grund für das starke Anwachsen des Interesses an der Rolle sozialer Faktoren beim Erwerb, der Vermittlung und der Rechtfertigung empirischem Wissens liegt bestimmt in dem gewaltigen Fortschritt und dem breit rezipierten Erfolg der modernen Wissenschaften. Viele möchten die jeweils neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse für die Erreichung ihrer persönlichen Ziele nutzen. Allerdings genügt die Lebenszeit des Einzelnen heute zumeist nicht einmal mehr, um sich einen vollständigen Überblick über das Gesamtwissen in auch nur einer Wissenschaftsdisziplin zu verschaffen. Je umfangreicher unser Wissen über die Welt wird, desto mehr sind wir deshalb auf Experten angewiesen. Denn wie wir politisch an den meisten Orten der Welt Ausländer sind, sind wir heute selbst als Wissenschaftler epistemisch in Bezug auf die meisten Wissensgebiete Laien. In dieser Situation sind Experten für uns unverzichtbar – Fachleute, die in einem bestimmten Gebiet gegenüber den meisten anderen (uns Laien) einen Wissensvorsprung haben. Denn wo man benötigtes Wissen nicht direkt erwerben und überprüfen kann, ist es nur vernünftig, Experten als Quelle für ein Spezialwissen zu nutzen, das uns Laien sonst unzugänglich bliebe. In einer solchen Lage wird nun das folgende Problem virulent: Es gibt nicht nur wahre Experten, sondern auch Leute, die sich lediglich als Experten ausgeben, ohne über den entsprechenden Wissensvorsprung zu verfügen. Wer deshalb ein Expertenurteil einholen will, muss zuvor die Frage beantworten: Wie lassen sich aus der Perspektive des Laien echte Experten von solchen, die bloß Experten zu sein behaupten, unterscheiden?
In der gegenwärtigen Philosophie gibt es zu dieser Frage eine umfangreiche Debatte, deren historische Wurzeln sich weit in die Philosophiegeschichte zurückverfolgen lassen. Interessanterweise hat gerade der Namensgeber des Preises, den ich heute hier erhalte, in seiner im Jahr 1638 in Hamburg publizierten Logica Hamburgensis Überlegungen zu genau dieser Frage angestellt. Bereits Joachim Jungius hat vier Kriterien zur Expertenidentifikation formuliert und das erste dieser Kriterien drückt einen Grundgedanken aus, der noch in der heutigen Debatte von Bedeutung ist. Ich zitiere: „Dem bewährten Kunstverständigen (probato artifici) muß man innerhalb seiner Kunst Glauben schenken, d. h. den Erfahrenen (peritis) in irgendeiner Kunst, Wissenschaft oder in sonst einem Berufe Kundigen, zumal wenn sie miteinander übereinstimmen“ (Joachimi Jungii, Logica Hamburgensis, Liber Quintus: De Dialectica, Cap. XXVIII.11; Übersetzung zitiert nach der zweisprachigen Edition, herausgegeben von Rudolf W. Meyer, Hamburg 1957, S. 611).
Wie aber lässt sich erkennen, ob jemand „in irgendeiner Kunst, Wissenschaft oder in sonst einem Berufe“ erfahren ist? Daran, dass sich ein Experte auch bewährt hat. In der Philosophie diskutiert man deshalb gegenwärtig intensiv darüber, anhand welcher Kriterien man die Bewährtheit eines Experten erkennen kann. Ein zentrales Ergebnis dieser Debatte lässt sich knapp wie folgt zusammenfassen: Expertentum zeigt sich durch verschiedene Formen von Unabhängigkeit des Urteils. Erstens muss die Zuverlässigkeit von Expertenurteilen mittels unabhängiger Tests überprüfbar sein; zweitens müssen die Urteile unabhängig von persönlichen Interessen oder Vorlieben sein; drittens ist die Übereinstimmung verschiedener Experten nur dann ein Indikator für ihre Zuverlässigkeit, wenn die Einzelnen unabhängig voneinander zu diesem Urteil gekommen sind. Und schließlich müssen all diese Kriterien unabhängig von der Bezugnahme auf Expertenwissen anwendbar sein – denn sonst sind sie nutzlos für Laien, die ja mit Hilfe eben dieser Kriterien herausfinden wollen, wer Experte ist und wer nicht.
Die Kernfrage meines Aufsatzes ist nun, inwiefern man diesen Kriterienkatalog sinnvoll dazu nutzen kann, Moralexperten zu identifizieren. Kurz: Lassen sich auch in Bezug auf Fragen der Moral echte Experten aus der Perspektive des Laien von solchen, die bloß Experten zu sein behaupten, unterscheiden? Auf diese Frage gebe ich die folgende Antwort: Zunächst gestehe ich zu, dass es Expertise in Bezug auf Fragen der Moral geben mag. Aber zugleich argumentiere ich dafür, dass alle etablierten Kriterien ungeeignet sind, moralische Experten als solche zu identifizieren. Mein Grundgedanke ist dabei, dass all diese Kriterien deshalb nutzlos sind, weil ihre Anwendung nur unter Rückgriff auf ein moralisches Wissen möglich ist, das der Laie doch erst durch den Experten zu erwerben sucht.
Sollte ich meinen Grundgedanken knapp und in wenigen Sätzen zusammenfassen, so würde ich dies in der folgenden Weise tun: Der Laie gerät hier in eine Situation, die man in der Philosophie als einen Begründungszirkel bezeichnet. Wenn er die Kriterien zur Expertenidentifikation im Bereich der Moral anwenden will, dann muss er auf ein Wissen zurückgreifen, dass er allererst vom Experten erfragen will. Anders gewendet: Hätte er das zur Expertenidentifikation benötigte Wissen zu Fragen der Moral, so wäre er selbst Experte und bräuchte den Experten nicht mehr.
In meinem Aufsatz zeige ich anhand mehrerer Argumente, dass uns in Bezug auf Fragen der Moral jeder gute Grund dafür fehlt, denen zu vertrauen, die sich als Experten ausgeben. Bedeutet dies aber, dass die Beschäftigung mit Moral ohnehin nicht lohne oder dass die Einrichtung von Ethikkommissionen grundsätzlich illegitim sei? Dies ist nicht der Fall. Lassen Sie mich deshalb mit einigen Bemerkungen dazu schließen, welche Konsequenzen sich aus dieser von mir begründeten Skepsis gegenüber Moralexperten tatsächlich ergeben: Normalerweise zeichnet sich Expertentum dadurch aus, dass ich als Laie mit Recht davon ausgehen kann, dass ausgewiesene Experten mir in einem bestimmten Wissensbereich epistemisch überlegen sind, d. h. dass ich gut beraten bin, ihren Ratschlägen generell zu folgen. Mein Ergebnis besagt, dass wir uns in der Frage nach dem richtigen moralischen Handeln nicht auf die Befragung von Experten verlassen sollten. Daraus ergibt sich aber weder die Konsequenz, dass die Auseinandersetzung mit moralischen Fragen nicht lohne, noch die Schlussfolgerung, dass es kein moralisches Wissen geben könne. Es bedeutet sehr wohl, dass die Rolle z. B. von Ethikkommissionen nicht dieselbe sein kann wie die von Fachgremien für empirische Sachfragen oder juridische Detailklärungen. Dies liegt aber nicht daran, dass es in Bezug auf Fragen der Moral kein Wissen gäbe, sondern vielmehr daran, dass die Rechtfertigung moralischer Entscheidungen nicht in derselben generellen Weise an Experten delegiert werden kann wie etwa in der Medizin oder der Meteorologie. In Bezug auf Fragen der Moral sind es immer wir selbst, die in jedem Einzelfall über moralische Gründe für und wider ein bestimmtes Handeln nachdenken und am Ende entscheiden müssen. Ethikkommissionen können allenfalls indirekt zu einem vertieften Verständnis moralischer Problemstellungen beitragen (z. B. durch die Klärung komplexer Grundbegriffe wie Selbstbestimmung oder Gewissen, durch empirische Informationen, die zum Verständnis einer spezifischen moralischen Problemsituation beitragen, oder durch die Aufdeckung von Argumentationsfehlern). All dies sind wichtige Aspekte bei der Klärung moralischer Probleme; um genuin moralisches Wissen, das die Richtigkeit moralischen Handelns verbürgen könnte, handelt es sich indes nicht. Dies entspricht auch dem Selbstverständnis vieler Mitglieder von Ethikkommissionen, aber bei weitem nicht dem Selbstverständnis aller Mitglieder. Diese sollten sich klarmachen, was für Experten wie Nichtexperten gleichermaßen gilt: Wer wissen will, welches Handeln moralisch richtig ist, der hat keinen guten Grund, denen generell zu trauen, die sich auf ihre Profession oder ihre persönliche Exzellenz berufend als moralische Experen ausgeben – dies gilt im Hinblick auf Moralphilosophinnen und -philosophen genauso wie für Theologinnen und Theologen, Politikerinnen und Politiker und auch im Hinblick auf Preisträger zu der Frage, worin Expertise in der Moral bestehe.
Meine sehr verehrten Damen und Herren – ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und freue mich, dass ich meine Freude über den Joachim Jungius-Preis 2014 mit Ihnen teilen darf.