Bericht über die Feier zur Verleihung des Joachim Jungius-Preises 2011 (29. Oktober 2012, Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, Hamburg)
Download: Einladungskarte (pdf)
Begrüßung
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Reinhard Zimmermann,
Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches und
internationales Privatrecht, Hamburg
Wir sind dazu aufgerufen, Europa zu gestalten, und wir versuchen, in unserem Institut einen Beitrag dazu zu leisten. Wir sind aber auch von Europa, und das heisst von der europäischen Kultur, geprägt. Wir stehen in einer Tradition. Das gilt gerade auch für unser Privatrecht. Dank der Rezeption des römischen Rechts im Mittelalter bildete Europa einen einheitlichen Rechtskulturraum. Das römische Recht bildete die Grundlage eines ius commune. Dies wurde, zunächst in Bologna, dann überall in Europa in Universitäten, die nach dem Modell von Bologna gegründet worden waren, studiert, es prägte den intellektuellen Horizont des „gelehrten“ Juristen, und es informierte auch die Praxis der Gerichte. Das römische Recht konstituierte eine Tradition des gelehrten Rechts. Das Bewusstsein dieser Tradition begann erst zu verblassen im Zeitalter der nationalen Kodifikationen, als jedes Land sein eigenes Privatrechtsgesetzbuch bekam. Zwar beruhten alle diese Kodifikationen materiell auf dem ius commune. Gleichwohl änderte sich das Bewusstsein der Juristen. Die nationale Kodifikation – in Deutschland also das BGB – wurde als autonomer Interpretationsraum begriffen, und damit kam es zu einer vertikalen und horizontalen Isolierung der Rechtswissenschaft. Wenn wir heute Europa als einheitlichen Rechtskulturraum rekonstituieren wollen, dann tun wir gut daran, uns diese historischen Zusammenhänge bewusst zu machen.
Eröffnung
Prof. Dr. Kurt Pawlik, Stiftungsvorsitzender
Sehr verehrte Frau Senatorin Dr. Stapelfeldt,
sehr geehrter Hausherr Professor Zimmermann,
lieber Herr Dr. Martens und Familie,
verehrte Festgäste,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
ich begrüße Sie zur Feier zur Verleihung des Joachim Jungius-Preises 2011 und danke Ihnen namens der Stiftung für Ihre so zahlreiche Teilnahme.
Ein besonderer Gruß geht an Sie, verehrte Frau Senatorin Dr. Stapelfeldt, und ich verbinde damit unseren herzlichen Dank für Ihre Bereitschaft, die heutige Veranstaltung unserer Stiftung durch Ihre Teilnahme und ein Grußwort auszuzeichnen! Und wir danken Ihnen, lieber Herr Zimmermann, und dem Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, dass wir diese Feier in Ihrem schönen Haus ausrichten können.
Besonders herzlich begrüße ich den „Star“ des heutigen Abends, unseren Preisträger Dr. Sebastian Martens mit seiner Begleitung und Familie und unseren heutigen Festredner, Herrn Prof. Dr. Rudolf Meyer-Pritzl, Dekan der Juristischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.
Ich begrüße:
den Präsidenten der Bucerius Law School Hamburg, Herrn Prof. Dr. Karsten Schmidt;
den Dekan der Fakultät für Rechtswissenschaften der Universität Hamburg, Herrn Prof. Dr. Tilman Repgen;
den Kanzler der Technischen Universität Hamburg-Harburg, Herrn Klaus J. Scheunert;
die Kolleginnen und Kollegen aus den Hochschulen der Region und der vormaligen Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften;
die zahlreiche Teilnahme aus der Praxis des Rechtswesens und, nicht zuletzt, aus Presse und Medien.
Ende 2007 in der Rechtsform einer gemeinnützigen rechtsfähigen Stiftung des bürgerlichen Rechts errichtet, verfolgt die Joachim Jungius-Stiftung der Wissenschaften zu Hamburg die Förderung von Wissenschaft und Forschung als ihren unmittelbaren und ausschließlichen Zweck. Sie steht damit in der Nachfolge der 1947 gegründeten Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften, die im Zuge ihrer Selbstauflösung nach erreichter Gründung der Akademie der Wissenschaften in Hamburg die neue Stiftung errichtete.
Als erste Fördertätigkeit hat die Stiftung 2009 einen Preis zur wissenschaftlichen Nachwuchsförderung für herausragende wissenschaftliche Forschung zum Thema Verteilungsgerechtigkeit ausgeschrieben, in Weiterführung einer Tradition der Joachim Jungius-Gesellschaft unter der Bezeichnung Joachim Jungius-Preis. Auch der Joachim Jungius-Preis 2011 sollte wieder wissenschaftliche Nachwuchsförderung zum Ziel haben. In seiner Ausschreibung wollte die Stiftung erneut ein Thema von hoher Aktualität und mit reicher Problemgeschichte aufgreifen, an dem sich einmal mehr das Wechselverhältnis zwischen gesellschaftlicher (bis politischer) Aktualität einer Frage und ihrer wissenschaftlichen Aufklärung verdeutlicht. Die Wahl fiel diesmal auf das Thema
Historische Grundlagen europäischer Privatrechtsordnungen.
Entsprechend der Widmung des Preises war das zulässige Höchstalter von Bewerbern zum Zeitpunkt der Einreichung wieder auf 40 Jahre festgesetzt.
Hintergrund dieser Themenwahl war das seit geraumer Zeit erörterte Ziel einer Vereinheitlichung mindestens der kontinentaleuropäischen Privatrechtsordnungen. Dazu ist ein Blick in die Vergangenheit nicht nur nützlich, sondern geradezu notwendig. Er lenkt die Aufmerksamkeit zunächst auf eine Rechtskultur, die seit der Antike das Rechtsleben Europas stark beeinflusst hat: das römische Recht. Nach seiner Zusammenfassung durch den byzantinischen Kaiser Justinian (um 530 n.Chr.) im sogenannten corpus iuris civilis verschwindet dieses Recht zunächst von der europäischen Bühne, um erst Jahrhunderte später in den Bibliotheken der oberitalienischen Universitäten Bologna und Padua buchstäblich wiederentdeckt und dann in Oberitalien rezipiert und gepflegt zu werden. Darauf folgte seine Rezeption in Westeuropa, nach Italien unter anderem in Frankreich, den Niederlanden und Deutschland. Durch die sog. historische Rechtsschule mit ihrem Gründer Friedrich Karl von Savigny und die Pandektenwissenschaft wird es hier im 19. Jahrhundert zu einem Mittelpunkt europäischer Rechtswissenschaft und juristischer Ausbildung. Der gesetzgeberische Höhepunkt ist das deutsche BGB, das nach rund dreißigjährigen Vorarbeiten am 1.1.1900 in Kraft tritt. Herr Professor Meyer-Pritzl wird uns in seinem Festvortrag in diese Forschung einführen.
Der Stiftungsvorstand freut sich, auf der Grundlage des einhelligen Votums der hochkarätig besetzten externen Jury aus den auf die Ausschreibung eingegangenen Bewerbungen heute den Preis an
Herrn Dr. iur. Sebastian A.E. Martens, Hamburg,
für seine an der Universität Regensburg verfasste Dissertation
„Durch Dritte verursachte Willensmängel“
vergeben zu können, mit der er einen hervorragenden Beitrag zur Erforschung der historischen Grundlagen des europäischen Privatrechts geleistet hat.
Grußwort
Senatorin Dr. Dorothee Stapelfeldt, Zweite Bürgermeisterin der Freien und Hansestadt Hamburg und Präses der Behörde für Wissenschaft und Forschung
Sehr geehrter Herr Prof. Pawlik,
sehr geehrter Herr Prof. Zimmermann,
sehr geehrter Herr Prof. Meyer-Pritzl,
sehr geehrte Herren Vorstände der Joachim Jungius-Stiftung der Wissenschaften zu Hamburg,
sehr geehrter Herr Dr. Martens,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
herzlichen Dank für die Einladung zur Verleihung des Joachim Jungius-Preises durch Ihre Stiftung.
Ich bin immer wieder begeistert, mit wie viel Engagement die zahlreichen Stiftungen in Hamburg das kulturelle, soziale und wissenschaftliche Leben unserer Stadt bereichern und mitgestalten. Nicht von ungefähr gilt Hamburg als Stiftungshauptstadt Deutschlands.
Die Joachim Jungius-Stiftung der Wissenschaften zu Hamburg hat sich der Tradition des großen Gelehrten Joachim Jungius verpflichtet. Jungius war – Süddeutsche würden sagen – ein echter Fischkopf: Geboren 1587 in Lübeck, gestorben 1657 in Hamburg.
Als Wissenschaftler war er ein echter Universalgelehrter: Arzt, Mathematiker, Biologe, Chemiker, Methodiker, Logiker. Und er war ein Vordenker: So verwarf er unter anderem die mittelalterliche Hoffnung, durch die Umwandlung von Metallen Gold herstellen zu können.
Interdisziplinarität und die Kühnheit, scheinbar feststehende Lehrmeinungen zu hinterfragen – das ist das, was die Joachim Jungius-Stiftung mit ihrem Preis honoriert. Und das ist auch etwas, was wir als Stadt, als Senat, fördern wollen. Gestatten Sie, an dieser Stelle anzusprechen, dass wir gegenwärtig die Voraussetzungen schaffen, ein neues Max-Planck-Institut zu gründen; das Max-Planck-Institut Struktur und Dynamik der Materie. Die physikalische Strukturforschung ist das Thema, und auch dort geht es um Interdisziplinarität.
Denn die Spezialisierung der Wissenschaften mit ihrer strikten Fächertrennung hat zwar bahnbrechende Fortschritte in der Forschung hervorgebracht, ist aber in dieser Strenge und Deutlichkeit nicht mehr zeitgemäß. Wissenschaftliche Exzellenz entsteht heute vielmehr durch Kooperation und Interdisziplinarität, wie wir sehr häufig bei den Exzellenzclustern der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder sehen. Etwa in der Klimaforschung. Gerade in der Meeresforschung. Oder auch in der Medizin.
Diese Vorgehensweise honoriert übrigens auch der Norddeutsche Wissenschaftspreis – in diesem Jahr zu Themen der Meeresforschung –, den wir Ende November erstmals gemeinsam mit den Ländern Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein verleihen.
Doch zurück zum Joachim Jungius-Preis. Ich finde es wichtig und schätze es, dass er bevorzugt an Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler verliehen wird. Auf diese Weise fördert die Stiftung ganz nachhaltig Wissenschaft und Forschung.
Der universellen Einstellung Jungius‘ verpflichtet, wird der Joachim-Jungius-Preis 2011 erstmals an einen Rechtswissenschaftler verliehen. Die Stiftung würdigt eine herausragende wissenschaftliche Forschungsarbeit zum Thema „Historische Grundlagen europäischer Privatrechtsordnungen“. Zwar ist das Privatrecht in Europa heute national fragmentiert, es basiert aber auf einer gemeinsamen europäischen Rechtskultur. Mit der diesjährigen Auszeichnung wird somit nicht nur ein Bogen zu einer weiteren wichtigen wissenschaftlichen Disziplin, den Rechtswissenschaften, geschlagen, sondern auch Bezug genommen auf einen der vielen Aspekte einer gemeinsamen europäischen Identität.
Autor dieser Arbeit ist der Jurist Dr. Martens aus Hamburg. Ich weiß nicht, ob Sie, Herr Dr. Martens, bereits als Schüler von Joachim Jungius gehört haben. Aber fast könnte man meinen, Sie hätten ihn sich zumindest teilweise zum Vorbild genommen. Neben alten Sprachen interessierten Sie sich in der Schule vor allem für Naturwissenschaften und die deutsche Sprache. Ihre Begeisterung für die Kombination einer streng logikbasierten Denk- und Vorgehensweise mit einem kreativen Umgang mit der deutschen Sprache führte Sie zur Jurisprudenz.
Und eine weitere Parallele zum Namenspatron des heute verliehenen Preises ist auffällig: Joachim Jungius trat schon im Alter von 22 Jahren in Gießen eine Professur für Mathematik an.
Ganz so jung ist der heutige Preisträger nun nicht: er hat vor kurzem die Vertretung einer Professur in Passau übernommen. Aber mit 32 Jahren gehört auch er zu den jüngsten Professoren in Deutschland.
Herzlichen Glückwunsch für die geleistete Arbeit und zu diesem Preis.
Vielen Dank.
Festvortrag: „Vom Römischen Recht zum Europäischen Privatrecht “
Prof. Dr. Rudolf Meyer-Pritzl, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
In seiner Festrede zur Einführung in das Rahmenthema des Joachim Jungius-Preises 2011 spannte Professor Meyer-Pritzl einen weiten Bogen vom römischen corpus iuris civilis über dessen Rezeption ab dem 11. Jahrhundert bis heute und stellte anschließend die besondere Preiswürdigkeit der Arbeit von Herrn Dr. Martens unter diesem Thema heraus.
Die Rede wird in einer gesonderten Publikation veröffentlicht werden.
Verleihung des Joachim-Jungius-Preises 2011
Prof. Dr. Kurt Pawlik verliest die Laudatio auf den Preisträger
Herr Dr. jur. Sebastian Martens wird für seine an der Universität Regensburg angefertigte Dissertation „Durch Dritte verursachte Willensmängel“ mit dem Joachim Jungius-Preis 2011 ausgezeichnet. Die Arbeit befasst sich hauptsächlich mit der Entwicklung der Regelungen über Willensmängel, die durch Drohungen und Täuschungen bewirkt werden, vom Römischen Recht bis in die Gegenwart. Die Untersuchung folgt einer rechtshistorisch-rechtsvergleichenden und zugleich geltungsbezogenen Methode. Diesem Ansatz entsprechend werden nicht nur die kontinentaleuropäischen Erfahrungen, sondern auch die Lösungen zum Schutz der Willensbildung im englischen Common Law in den Blick genommen. Die historisch-komparatistische Analyse mündet in eine ausführ- liche eigene theoretische und dogmatische Grundlegung der Folgen von Willensmängeln, die durch Dritte verursacht werden. Damit erweist sich die Arbeit für die Präzisierung sowohl des geltenden deutschen Rechts der Willensmängel als auch eines künftigen europäischen Privatrechts als überaus ertragreich.
Die Dissertation ist von höchster wissenschaftlicher Qualität. Mit der Verleihung des Joachim Jungius-Preises würdigt die Joachim Jungius-Stiftung der Wissenschaften den hervorragenden Beitrag, den Herr Dr. Martens mit seiner Untersuchung zur Erforschung der historischen Grundlagen des europäischen Privatrechts geleistet hat.
Referat des Preisträgers: „Absolute oder relative Willensfreiheit - Der Vertragsabschluss und die widerrechtliche Einflussnahme durch Dritte“
Dr. iur. habil. Sebastian A. E. Martens, M. Jur. (Oxon.), Hamburg
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
Lassen Sie uns eine kleine Zeitreise machen: Wir befinden uns in der Nähe von Rom auf dem Land. Es ist die Zeit des Bürgerkriegs in den 80er Jahren v. Chr. Gestern morgen erst entdeckte der reiche römische Bürger Quintus Mucius seinen Namen auf den Proskriptionslisten Sullas. Gerade rechtzeitig konnte er noch aus der Stadt fliehen. Nun sucht er als Patron Zuflucht bei seinem Freigelassenen Pallas. Pallas erkennt die günstige Gelegenheit: Er bietet Quintus Mucius zwar seine Hilfe an, macht sie aber davon abhängig, dass sein Patron ihn von den Dienstpflichten, den sogenannten operae, befreit, die er als Freigelassener leisten muß. Quintus Mucius ist verzweifelt angesichts seiner Lage. Er sieht sich gezwungen, dem Verlangen des Pallas nachzukommen und ihm eine entsprechende Erlassurkunde auszustellen.
Dank der Hilfe seiner Freigelassenen überlebt Quintus Mucius die Wirren der nächsten Jahre. Als sich die allgemeine Lage wieder einigermaßen stabilisiert hat, will er aber nichts mehr von Belohnungen wissen, die er seinen Freigelassenen in der Not versprochen hat. Auch die Erlassurkunde, die er dem Pallas ausgestellt hat, hält er nun für unwirksam und fordert sie zurück. Er habe den Erlass der operae nämlich nur aus Furcht und unter dem Druck der damaligen Umstände vorgenommen.
Wir machen einen Sprung von etwa 1400 Jahren und landen im mittelalterlichen England. Ein gewisser Richard konnte wieder einmal seine Schulden nicht bezahlen und sitzt nun in der Schuldhaft seines Gläubigers George. Bis zu den Knien steht Richard das Wasser im Schuldturm, und es gibt nur verschimmeltes Brot und stinkendes Wasser als Nahrung. Richards einzige Hoffnung ist sein reicher Nachbar John, der ihn auslösen soll. Damit John seine Schulden bezahlt, verspricht Richard ihm in einer Urkunde, dass er die Auslagen nebst einer stattlichen Belohnung zahlen wird, sobald er wieder frei ist und entfernter liegende, ihm gehörende Güter verkauft haben wird. Tatsächlich bezahlt John die Schulden Richards, der daraufhin von George freigelassen wird. Wieder in Freiheit erweist sich Richard aber als wenig dankbar. Er bestreitet die Gültigkeit der in Haft ausgestellten Urkunde. Denn er habe sie nicht aus freien Stücken ausgestellt, sondern nur in Todesangst und unter dem Eindruck der schrecklichen Haftbedingungen.
Wieder reisen wir ein halbes Jahrtausend. Wir sind jetzt in Hamburg im Jahr 1942. Es herrscht Krieg, und die zuvor schon großen Repressionen gegen die Juden haben zuletzt noch einmal zugenommen. Schlimme Gerüchte über Greul im Osten machen die Runde. Der jüdische Professor P. sieht sich angesichts der wachsenden Diskriminierung und Gewalttätigkeit gezwungen, ein wertvolles Gemälde an den K. zu veräußern.
Aufgrund glücklicher Umstände kann P. untertauchen und überlebt das Dritte Reich. Im Herbst 1945 kehrt er nach Hamburg zurück und verlangt das Gemälde von K heraus. Er ficht die Veräußerung an, weil er sie nur aus Angst vor einer drohenden Beschlagnahme und wegen seiner allgemeinen Notlage aufgrund des Berufsverbots zu einem eigentlich viel zu niedrigen Preis vorgenommen habe.
Unsere letzte Reise ist am kürzesten und trägt uns nur über etwa 50 Jahre zurück nach England. Dort benötigt der Unternehmer U. dringend einen neuen Kredit für sein notleidendes Geschäft. Da sonst keine Mittel mehr vorhanden sind, kann er seiner Bank B. als Sicherheit nur noch das Familienheim anbieten, das allerdings im Miteigentum seiner Frau F. steht. Durch eine übertrieben optimistische Darstellung der Geschäftslage, einiger subtiler Drohungen und ähnlicher Überzeugungsmittel gelingt es U., die F. dazu zu bewegen, einer Belastung des Familienheims zuzustimmen und die entsprechenden Verträge der B. zu unterzeichnen. B hatte sich aus den internen Gesprächen des U. und der F. ganz herausgehalten.
Auch mit dem neuen Kredit der B. kann U. sein Unternehmen leider nicht retten. Schon wenige Monate später muss er Insolvenz anmelden. Die B. will sich in der Insolvenz schadlos halten und macht ihr Sicherungsrecht an dem Familienheim geltend. Dieses Heim, das ihr castle ist, will die F. aber nicht kampflos aufgeben: Sie wendet gegen die Gültigkeit des Sicherungsrechts ein, daß sie das Geschäft gar nicht überblickt habe. Sie habe es allein im Vertrauen auf ihren Mann vorgenommen, der sie zu dem Geschäft gedrängt und überdies falsch informiert habe.
Unsere Zeitreise ist zu Ende. Uns sind vier Fälle aus vier ganz unterschiedlichen Zeiten begegnet, die sich an verschiedenen Orten Europas so oder so ähnlich tatsächlich ereignet haben. Ihnen gemeinsam ist, dass jemand ein Geschäft abgeschlossen hat und später einwendet, daß er nicht wirklich frei gehandelt habe. Sein Geschäftspartner hat vielleicht von der besonderen Zwangslage profitiert, aber er war nicht unmittelbar für die Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit verantwortlich. Die Verantwortung hierfür lag vielmehr bei einem Dritten, einer Personengruppe oder vielleicht auch nur bei den allgemeinen Umständen der Zeit.
Den vier Rechtsordnungen, in denen sich diese Fälle ereigneten, sahen sich vor folgende Fragen gestellt: Erstens: Wieviel Schutz kann und soll in solchen Situationen gewährt werden? Zweitens: Wie ist dieser Schutz gegebenenfalls rechtstechnisch umzusetzen? Und drittens schließlich: Wie lässt sich der Schutz im Kontext des jeweiligen allgemeinen Vertragsrechts rechtfertigen? Die Rechtsordnungen Europas haben im Laufe der Zeit sehr unterschiedliche Antworten auf diese Fragen gefunden. In meiner Dissertation mit dem Titel „Durch Dritte verursachte Willensmängel“ habe ich diese Antworten in einem ersten historisch-rechtsvergleichenden Teil umfassend dargestellt und analysiert.
Den Ausgangspunkt bildete dabei das römische Recht, dessen Erbe auch heute noch die kontinentalen Rechtsordnungen Europas prägt. Dabei kannte das römische Recht keine allgemeinen Regelungen, die sich dem Problem der Willensmängel bei Vertragsschluss gewidmet hätten. Vielmehr gab es im römischen Recht eine Reihe verschiedener Instrumente zum Schutz vor widerrechtlichen Beeinflussungen. Nur teilweise waren sie spezifisch auf die Situation des Vertragsschlusses zugeschnitten. Besonders wichtig war der Schutz bei dolus (Arglist) und metus (Furcht). Dabei gaben die Rechtsmittel wegen dolus grundsätzlich nur einen relativen Schutz gegenüber dem Übeltäter, dem die Arglist vorzuwerfen war. Bei metus wurde hingegen prinzipiell ein absoluter Schutz gewährt, so daß jedes Geschäft angreifbar war, das aufgrund von Furcht (metus causa) vorgenommen worden war. Der Gegensatz zwischen dem relativen Schutz bei dolus und dem absoluten Schutz bei metus wirkte sich in der Praxis allerdings wohl kaum aus. Denn man dehnte einerseits den Begriff des dolus weit aus, so dass auch jemandem, der von dem betrügerischen Verhalten eines Dritten bloß gewusst hatte, bereits Arglist vorgeworfen werden konnte. Und andererseits nahm man nur recht zurückhaltend an, dass ein Geschäft metus causa abgeschlossen worden sei, und betonte eher andere Motive, die die Gültigkeit des Geschäfts nicht in Frage stellten.
Als das römische Recht im Mittelalter wiederentdeckt wurde, erkannte man jedoch weniger die faktische Annäherung des Schutzes vor widerrechtlichen Beeinflussungen durch Dritte, sondern nahm vor allem den prinzipiellen Gegensatz des relativen Schutzes bei Arglist und des absoluten Schutzes bei Furcht wahr. Dieser Gegensatz prägte auch das Denken der Juristen in der Folgezeit, als man sich zum ersten Mal bemühte, allgemeine Prinzipien aus den disparaten Quellen wissenschaftlich herauszuarbeiten. Als Grundlage vertraglicher Bindung entdeckte man nun den consensus der Vertragsparteien. Nach den römisch-rechtlichen Quellen standen einem wirksamen consensus sowohl Furcht als auch Arglist entgegen. Zusammen mit dem Irrtum (error) bildeten sie fortan die Trias der sogenannten Willensmängel, die sich auch heute noch in den kontinentalen Rechtsordnungen finden.
Die Reichweite des Schutzes hat sich dabei sehr unterschiedlich entwickelt, je nachdem wie treu man dem rezipierten römischen Erbe blieb. Bis heute ist es umstritten, ob der Wille bloß relativ gegenüber unzulässigen Einflussnahmen durch den Geschäftspartner oder, zumindest unter bestimmten Umständen, absolut gegenüber jeglicher Beeinträchtigung geschützt werden sollte. Vor allem bei der Drohung, dem heute gebräuchlichen Begriff für metus, findet sich eine Vielzahl höchst unterschiedlicher Regelungen in den Rechtsordnungen Kontinentaleuropas. Denn der scheinbar absolute Schutz bei metus im römischen Recht lässt sich im Rechtsalltag kaum gewährleisten. Das Recht kann nämlich keinen absoluten Schutz in Zwangslagen bieten. Nicht selten ist man gerade in solchen Notlagen auf die Kooperation anderer angewiesen und muss dann auch gültige und unanfechtbare Verträge abschließen können, um sich fremde Hilfe sichern zu können. Hätte der Freigelassene Pallas in unserem ersten Fall gewusst, dass seine Erlassurkunde wertlos sein würde, hätte er dem Quintus Mucius vermutlich nicht geholfen, und auch unser reicher John hätte Richard kaum aus dem Schuldturm gelöst, wenn dessen Versprechen ungültig gewesen wäre. Ein absoluter Schutz durch das Recht vor Willensbeeinflussungen hätte Quintus Mucius und Richard deshalb wohl jeden tatsächlich notwendigen Schutz genommen. Nicht zuletzt aus diesem Grund läßt sich allgemein ein Trend zu einem eher relativen Schutz vor Willensbeeinflussungen und damit hin zu einer relativ verstandenen Willensfreiheit beobachten.
Weitgehend unbeeinflusst vom römischen Recht blieb die Entwicklung in England. Als man hier im 19. Jahrhundert erstmals ein allgemeines Vertragsrecht entwickelte, bildete sich auch in England die Regel heraus, dass die Willensbildung bei Vertragsschluss grundsätzlich nur gegenüber dem Vertragspartner geschützt werde. Dabei war dieses Prinzip angesichts des überkommenen Fallmaterials keineswegs zwingend, weil es insbesondere im Fall schwerer Drohungen durchaus auch Ansätze eines absoluten Schutzes gegeben hatte. Gleichwohl ging man über mehr als hundert Jahre in England von einem vergleichsweise streng relativ verstandenen Schutz vor Beeinflussungen der Willensbildung aus, bis in den 1980er Jahren mehr und mehr Fälle wie der des Unternehmers U., seiner Frau F. und der Bank B. auftauchten. Angesichts dieser Sachverhalte sahen die englischen Gerichte sich genötigt, den Schutz des Rechts auch auf bestimmte Konstellationen auszudehnen, in denen die Banken an der unzulässigen Einflußnahme auf ihre Sicherungsgeber gänzlich unbeteiligt gewesen waren. Das damalige House of Lords entwickelte deshalb bestimmte Obliegenheiten für die Banken, die ihren Sicherungsgebern einen gewissen Schutz vor Beeinflussungen durch Dritte bieten sollten. Insbesondere vor Fehlinformationen sollten die Sicherungsgeber durch eine unabhängige Beratung geschützt werden. Kommen die Banken ihren Obliegenheiten nicht nach, so laufen sie Gefahr, daß die ihnen gewährten Sicherheiten unwirksam sind, wenn die Sicherungsgeber tatsächlich durch Dritte unzulässig in ihrer Willensbildung beeinflusst wurden. Einen wirksamen Schutz vor Drohungen vermag die Beratungslösung des House of Lords freilich nicht zu gewährleisten, da es sich hier nicht um ein Problem unzureichender Informationen handelt.
Nach der historisch-rechtsvergleichenden Bestandsaufnahme habe ich das Problem der von einem Dritten beeinflussten Willensbildung bei Vertragsschluss dogmatisch im geltenden deutschen Recht untersucht. Zugleich habe ich versucht, eine angesichts des historisch-rechtsvergleichenden Befunds und rechtstheoretischer Überlegungen allgemein überzeugende Lösung zu entwerfen, an deren Maßstab ich auch das geltende deutsche Recht gemessen habe. Dabei habe ich zunächst den Wert selbstbestimmter Bindung aufgezeigt, der von zentraler Bedeutung für die Möglichkeit privatautonomen Handelns ist. Selbstbestimmte Bindung schließt jedoch ein, dass jeder prinzipiell selbst entscheiden kann, welche Risiken er gegenüber anderen übernehmen möchte. Dies umfasst auch die Übernahme des Risikos einer widerrechtlichen Einflussnahme durch Dritte. Hätten Quintus Mucius und Richard in unseren Ausgangsfällen diese Risiken nicht übernehmen können, hätten sie wohl keine Unterstützung erhalten. (Zwingenden) Schutz vor Einflussnahmen durch Dritte sollten die Rechtsordnungen nur ausnahmsweise bieten, wenn der Geschäftspartner des Beeinflussten eigene Pflichten oder Obliegenheiten verletzt hat oder aus anderen Gründen nicht schutzwürdig erscheint. Eine Liste solcher Gründe geminderter Schutzwürdigkeit des Geschäftspartners habe ich unter Rückgriff auf die Erkenntnisse des historisch-rechtsvergleichenden Teils meiner Arbeit detailliert entwickelt. So habe ich ein Prinzip formuliert, mit dem die Fälle der durch Dritte verursachten Willensmängel allgemein sinnvoll gelöst werden könnten. Im Hinblick auf das deutsche Recht, das in seinem § 123 Abs. 1 BGB einen absoluten Schutz bei Drohungen kennt, habe ich für eine teleologische Reduktion der Norm plädiert. Außerdem habe ich in einer Gesamtanalogie ein allgemeines Anfechtungsrecht bei widerrechtlichen Beeinflussungen durch den Vertragspartner vorgeschlagen, durch das ein umfassender relativer Schutz im deutschen Recht gewährt würde, wie er im Sinne des historischen Gesetzgebers wäre, auch wenn dieser seine Regelungsvorstellungen nur unvollkommen im Gesetzestext des BGB ausgedrückt hat.